Aus der Pandemie heraus blicken Placebo auf eine Landschaft der Intoleranz, der Spaltung, der technischen Übersättigung und der drohenden Öko-Katastrophe. Dabei kommt das Talent des Duos, ein kolossales, herzzerreißendes Stück Musik zu erschaffen, mit voller Kraft zum Einsatz. 'Never Let Me Go' erwacht mit unbändiger Dringlichkeit zum Leben. Die ersten drei Tracks kommen mit der Energie einer Teenager-Punk-Combo daher. Aber es hat auch meisterlich vollendete Pop-Songs wie 'Beautiful James' zu bieten, eine mitreißende Hymne für nicht-heteronormative Beziehungen von einer Band, die sich erstmals 1996 mit 'Nancy Boy' inmitten der amorphen Britpop-Kultur für Vielfalt einsetzte, lange bevor die heutige offene, kämpferische Atmosphäre entstand. Nach dem rasanten Triple-Song-Hammer öffnet sich 'Never Let Me Go' mit vielen Stimmungen und Musikstile. In ihnen steckt eine Wut, die zwar nie polemisch ist, sich aber spürbar am Wahnsinn und den Ungerechtigkeiten des täglichen Lebens entzündet. Molko mag ein eigenwilliger Rockstar sein, wie es sie heute nicht mehr häufig gibt, aber wie jeder echte Künstler sieht er sich als Sprachrohr für die Gefühle der breiten Öffentlichkeit. Mitte der 1990er, als an nicht-binäre Ikonen noch nicht zu denken war, sprach er für all jene, die sich vom Britpop entfremdet fühlten, und kanalisierte Glam-Goth-Androgynie, Grunge-Sound und Pop-Verständnis zu einer alternativen Vision, die internationale Resonanz fand. Mit mehr als 13 Mio. verkaufter Alben, darunter fünf Top-10-Entries in den UK LP-Charts und fünf Top-5-Platzierungen hierzulande, haben Placebo eine Stimme, die weder ignoriert noch zum Schweigen gebracht werden kann. 'Never Let Me Go' ist Musik für Engagierte und Enttäuschte, für Schlaflose, Aktivisten und Trolle, die in Ruhe darüber nachdenken können. Es zeigt aber auch eine neue aufregende Stil- und Sound-Bandbreite der Band, ein weiteres 'bestes Album, das sie je gemacht haben', in einer langen Reihe. Hält man es einmal in der Hand, wird man es nicht mehr loslassen wollen.